Benjamin Sisko: Wanderer zwischen den Welten

 

Anders als andere Sternenflotten-Captains hatte Benjamin Sisko stets eine Doppelrolle inne. Er war nicht nur seinem Kommando verpflichtet, sondern einem weit höheren Gut, das er selbst erst im Laufe der Zeit zu begreifen begann. Wir konnten verfolgen, wie Sisko während seiner Laufbahn auf der ehemaligen cardassianischen Station zwischen seinen Aufgaben als Stationskommandant und als Abgesandter für das bajoranische Volk regelrecht hin und her gerissen war.

 

Für Sisko beinhalteten die Jahre auf Deep Space Nine eine Reise hin zu einer ultimativen Erkenntnis: Wie wir die Welt sehen, kommt ganz auf die Perspektive an. Und jede Perspektive – weltlich oder spirituell – hat ihre ganz eigene Berechtigung. Sie sind am Ende zwei Seiten derselben Medaille. Und in seinem persönlichen Fall war es die Ganzheit dieser beiden Seiten, die ihm Erfüllung und inneren Frieden brachte.

 

 

Ungewollt auserkoren

 

Sisko war dazu ausgewählt worden, das bajoranische Volk zu beschützen, ihm beim schwierigen Wiederaufbau und der politischen Stabilisierung zu helfen. Er war buchstäblich dafür in die Welt gesetzt worden, auch wenn ihm diese Dialektik seines eigenen Lebens in keiner Weise bewusst war – bis das Fundament auf dem langen Weg zu dieser Einsicht gelegt wurde. Es geschah unmittelbar nach seiner Ankunft auf DS9. Er erhielt eine spontane Audienz bei der Frau, die sein Leben für immer verändern sollte: Kai Opaka. Sie nahm sein Pagh, maß seine spirituelle Kraft und leuchtete ihm ins Herz. Vor dem Hintergrund ihres unermesslichen religiösen Wissens aus einander widersprechenden, Jahrtausende alten Prophezeiungen und Vorahnungen erkannte sie ausgerechnet Sisko – den aus der Fremde kommenden, durch Verwitwung, Leid, Trauma und Verunsicherung zerbrechlich gewordenen Föderationsmann – als den Auserwählten für ihr Volk. Das schien absurd, denn Sisko wollte eigentlich nicht sein, wo er war; die Aufgabe schien ihm zu groß, und seine Wiederbegegnung mit Jean-Luc Picard rief Schmerz und Wut in ihm hervor. Nur sein Pflichtbewusstsein hielt ihn vorerst am Fleck. Opaka ließ sich von den offensichtlichen Wunden dieses Mannes nicht beirren: Sie sprach fortan von ihm als dem Abgesandten der Propheten und rief ihn öffentlich dazu aus. Opaka teilte Sisko mit, dass er – gemäß mehr als nur einer Prophezeiung – in der Rolle, die ihm von den bajoranischen Göttern zugewiesen worden sei, den Himmelstempel finden, dessen Pforten dauerhaft öffnen und als erster mit den Propheten sprechen werde. Dadurch, so die Kai, werde sein Heilungsprozess beginnen.

 

„Die Lösung findet sich im Inneren, Commander. […] Sie werden den Tempel finden. Nicht für Bajor, nicht für die Föderation, sondern für Ihr eigenes Pagh. Es ist ganz einfach, Commander: Sie unternehmen nur die Reise, die immer für Sie vorgesehen worden war.“

 

Die Dinge fügten sich, auch wenn Sisko sie so sah, dass er das erste stabile Wurmloch gefunden hatte sowie darin lebende nicht-lineare, fremdartige Existenzen, mit denen er einen Erstkotakt hergestellt hatte. Doch nach der Entdeckung der Anomalie bestand für viele Bajoraner kein Zweifel mehr daran, dass die Prophezeiungen vom Abgesandten sich bewahrheitet hatten. Sie gaben sich der Überzeugung hin, dass sich ihr Himmlischer Tempel geöffnet habe, weil der Abgesandte eingetroffen und durch seine Präsenz die Aufmerksamkeit und das Wohlwollen der Götter erfahren habe. Und nun – endlich – offenbarten sich die Propheten Bajor.

 

 

Zweifel an der zugedachten Rolle

 

Nur Sisko war und blieb voller Zweifel, wo ihm ein Volk, das er kaum kannte, auf einmal solche Verehrung und – ja – Anbetung entgegenbrachte. Dies ging über mehrere Jahre so, auch wenn er sich bemühte, im Sinne seiner Mission mitzuspielen und die religiöse Ehrfurcht, die er nie recht verstand, über sich ergehen zu lassen. Erschwerend kam hinzu, dass Opaka rasch im Gamma-Quadranten verunglückte und nicht mehr als Ratgeberin und für weitere Erklärungen (oder Erleuchtungen) zur Verfügung stand (Die Prophezeiung). Stattdessen bekam Sisko es mit der missgünstigen Winn Adami zu tun, die ihm seine Position als Abgesandten neidete (vermutlich bezeichnete sie ihn zu Recht als „Herausforderung des bajoranischen Glaubens“) und ihm fortan mit Skepsis begegnete – ein Umstand, der Sisko instinktiv eher darin bestärkte, die ihm von Opaka zugedachte Rolle nicht fallen zu lassen, auch wenn er nach wie vor mit ihr stark fremdelte.

 

Aus seiner Sicht war er ein Mann der Sternenflotte, verpflichtet der rationalen und weltlichen Erkenntnis. Immer wieder wurde er im Laufe seiner Zeit auf DS9 mit rätselhaften Prophezeiungen, Legenden über den Abgesandten konfrontiert, mit Bildnissen über bevorstehende Herausforderungen, die ihn in seiner Entscheidungsfindung zu beeinflussen suchten. Sisko war das nicht recht.

 

In Trekors Prophezeiung fragte er Kira voll des Zweifels: „Glauben Sie wirklich, dass ich der Abgesandte bin? […] Ich hoffe, ich verletze Sie nicht in Ihrem Glauben, aber ich sehe mich selbst nicht als religiöse Ikone.“ Kira argumentierte daraufhin, dass die Propheten nicht-lineare Wesen seien, die bajoranischen Propheten Jahrtausende in der Vergangenheit Informationen über die Zukunft anvertraut hatten, sodass die Prophezeiungen stimmen müssten. Doch Sisko verblieb weiterhin skeptisch: „Es tut mir leid, aber da, wo Sie ein Sternenschwert sehen, sehe ich einen Kometen. Da, wo Sie Vipern sehen, sehe ich drei Wissenschaftlerinnen…und da, wo Sie einen Abgesandten sehen, sehe ich einen Offizier der Sternenflotte.“

 

Sisko hatte mindestens bis zum Ende der dritten Season nicht das Gefühl, dass diese beiden Welten, zwischen denen er notgedrungen wandern musste, zusammen passten. Mehr noch: Sie schienen einander auszuschließen.

 

 

Bajor heilt die Wunden

 

Während Sisko seine Abgesandtenrolle zurückhaltend betrachtete, spürte er dennoch eine seltsame Verbindung, die sich ausgeknüpft hatte und beständig enger wurde. Bajor und sein Volk übten etwas auf ihn aus, weckten etwas in ihm und veränderten ihn allmählich. Sein rasch wachsender Respekt vor der uralten, weisen und von Demut und Ausgleich geprägten bajoranischen Kultur begann seine Handlungen gegenüber der Sternenflotte zu beeinflussen, doch er ließ dies bewusst zu. Später würde er vor Admiral Ross von der unvergleichlichen Schönheit Bajors schwärmen und von der Welt als seinem dauerhaften Zuhause sprechen. Dax würde ihm bewundernd mitteilen, dass sie nicht geglaubt hätte, er würde sich nach Jennifers Tod jemals wieder mit einer solchen Leidenschaft für eine Sache einsetzen.

 

Wir konnten verfolgen, wie Sisko seine Abgesandtenidentität zunächst in der Abgrenzung von Personen fand, die ihm diese Rolle streitig machen wollten und gänzlich andere Ziele und Absichten verfolgten. Da wären seine politische Dauerrivalin Kai Winn, mit der er immer wieder zusammenstieß, aber es gab auch noch andere Begegnungen mit Bajoranern, die seine Bereitschaft antrieben, die ihm von Opaka zugedachte Aufgabe nicht abzulegen. So erschien der Dichter Akorem Laan eines Tages und beanspruchte den Titel des Abgesandten selbst (Die Übernahme). Zunächst hieß Sisko die Chance willkommen, die spirituelle Beziehung zu Bajor loszuwerden. Immerhin war Akorem ein Bajoraner, und die Prophezeiungen schienen auf ihn und das, was er erlebt hatte, zuzutreffen. Als er jedoch erkannte, dass Akorems Haltung im direkten Gegensatz zu seiner eigenen stand und der Mann Bajor aufgrund seines rückwärtsgewandten Weltbildes von der Föderation wegtreiben würde, nahm er die Bürde wieder auf und forderte Akorem zu einem Duell, über dessen Ausgang die Propheten selbst entscheiden mussten. Erst als sie sich für Sisko entschieden und zum ersten Mal offen bestätigten, dass er „von Bajor“ sei, schien er seine Rolle langsam und nun ein Stück besser zu begreifen. Es würde noch weitere solcher inneren wie äußeren Prüfungen geben, doch ab hier wurde Siskos Weg immer klarer.

 

 

Die Rolle seines Lebens

 

Sisko machte seine spirituelle Rolle mehr und mehr zu einem Teil seines Wesens – und es spendete ihm neue Kraft und Zuversicht. Sisko wurde seiner Verantwortung gerecht. Die verwundete Menschenseele, die wir in Der Abgesandte kennen gelernt hatten, begann zu heilen – dank den Propheten und dank Bajor.

 

Sisko begann diese paradiesgleiche Welt voller Geheimnisse für sich zu entdecken und zu erschließen; er saugte alles auf wie ein Schwamm. Er beschäftigte sich mit bajoranischer Kunst- und Malereigeschichte, entwickelte ein Interesse für die Antike des Planeten und versuchte sich sogar am Bau eines traditionellen bajoranischen Sonnenseglers. Durch ein Gemälde von B’hala und in der darauf folgenden Suche nach der verlorenen bajoranischen Stadt lernte er schließlich, die Rolle des Abgesandten dauerhaft zu akzeptieren. Zocals dritte Prophezeiung besagte, dass nur jemand die versunkene Metropole finden konnte, der von den Propheten berührt worden war (Heilige Visionen). Und es fand sie ein Mann, den die Propheten auf eine Weise berührt hatten, die er selbst nicht recht verstand. War es die menschliche Neugierde oder die Vision der Propheten, die den Abgesandten so weit brachten? Wo verläuft die Trennlinie? Das wissen vermutlich nur die Propheten selbst. Soweit es Siskos Gefühlsleben betraf, schien diese Trennlinie immer weniger zu existieren. Beide Hälften seiner selbst wuchsen zusammen.

 

Dann kam der Krieg gegen das Dominion. Als die Bajoraner endlich dazu bereit waren, sich der Föderation anzuschließen – etwas, das von vorneherein der Plan gewesen war –, warnte ausgerechnet Sisko sie davor, und rettete Bajor vermutlich dadurch vor der Eroberung durch das Dominion – und womöglich gewaltiger Zerstörung. „Bajor muss allein bestehen“, sagte er. Und das tat es auch; als die Vorboten des Dominion aus dem Gamma-Quadranten eintrafen, konnte es nun einen Nichtangriffspakt mit Bajor aushandeln. Der Krieg zwang Sisko vorübergehend, die zwei Hälften seines Selbst abermals aufzubrechen. Um das Dominion zu bekämpfen, musste er Captain der Sternenflotte sein, er musste Flotten befehligen und Frauen und Männer des höheren Ziels wegen in den Tod schicken – und trotz aller Bürde und Schwere, die damit einherging, gelang ihm dies souverän.

 

Doch der Abgesandte war noch da, unter der Oberfläche und bereit, seine Aufgabe fortzuführen. Als die Föderation mit dem Rücken zur Wand stand und das Dominion kurz davor, den Alpha-Quadranten einzunehmen, trug Sisko sein Anliegen zu den Propheten. Er wusste, dies war seine einzige Chance, den Untergang seiner Zivilisation abzuwenden. Die Wurmlochentitäten halfen ihm, den kommenden Ansturm des Dominion im Kanal des Wurmlochs zu zerschlagen. Siskos Sieg war nur mithilfe der Propheten möglich – und damit auch letzten Endes der Triumph über die Gründer.

 

Und doch würde Sisko wenige Tage nach Kriegsende selbst in den physischen Tod stürzen, als Vorkämpfer einer uralten Auseinandersetzung, die ihn auf der Seite der Propheten gegen die Bosheit der Pah-Geister führte. Sisko würde einen hohen Preis zahlen, und doch hatte er zu diesem Zeitpunkt seine Rolle als Abgesandter längst angenommen. Er wusste, wo er war, und wofür er eintreten wollte. Er brauchte nicht länger Trost und Heilung, sondern besaß die Entschlossenheit und Kraft, um seine Aufgabe – vorerst – zu beenden und Bajor zu retten.

 

 

Heimkehr und Erlösung

 

Es gab immer schon Grenzen zwischen dem spirituellen und säkularen Leben einer Person. Manche Menschen haben die beiden Bereiche getrennt, andere wissen genug über sich, um die zwei Leben – vielleicht auch die zwei Hälften ihrer Seele – zu einer ganzen, funktionierenden Einheit zusammenzubringen. Bei Sisko fing dieser Prozess im Kleinen und höchst unfreiwillig an. Von dem Augenblick an, als Kai Opaka ihn als Abgesandten bezeichnete und sagte, sie könne ihr Volk ohne ihn und sein Werk nicht dauerhaft vereinen, begannen Siskos zwei Hälften mit ihrem unaufhaltsamen Weg hin zu einer Verschmelzung.

 

Es dauerte lange, bis er mit der Rolle als Abgesandter zurechtkam, aber dann umarmte er diese Berufung umso mehr. Schließlich stellte er fest, dass er in der Verbindung von Weltlichkeit und Spiritualität genau jene Person geworden war, die er sein sollte und musste. Erst durch die Entdeckung des Himmlischen Tempels und seine fortwährenden Kontakte zu den hoch entwickelten Propheten begann er instinktiv an etwas Höheres zu glauben, das im Hintergrund am Werke war. Sisko blieb stets demütig und auf seine weltlichen Aufgaben konzentriert; er wurde nie ein religiöser Eiferer. Aber sein Glaube spendete ihm Trost und Kraft, die schweren Hürden zu meistern, mit denen er konfrontiert war. Seine Sternenflotten-Ausbildung mag das Fundament gewesen sein, mit Pflicht und Disziplin seiner Aufgabe auf Bajor die Treue zu halten, doch ohne den heilenden Einfluss von Bajor und den Propheten hätte er diese Welt nicht retten können – und die Föderation gleich mit. Siskos Selbstfindung wurde so der Schlüssel zur Selbstbehauptung eines ganzen Quadrantengefüges im Kampf gegen einen übermächtigen Feind.

 

Wer kann schon sagen, welchen Aufgaben er sich in Zukunft stellen wird, sei es im Diesseits oder im Jenseits?

 

Hinweis: Sämtliches in diesem Artikel verwendetes Bildmaterial entstammt www.trekcore.com (öffentlich verfügbare Screencaps)

 

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