Nicht aus Fleisch und Blut, aber empfindungsfähig - Künstliche Lebensformen

 

Dieser Artikel ist erschienen in der deutschen Übersetzung des Romans Silent Weapons (Lautlose Waffen), Cross Cult 2015.

 

In der Trilogie Kalte Berechnung dreht sich alles um künstliche Intelligenz – eines der Themen, die bei Star Trek: The Next Generation stets hoch im Kurs standen. Nachdem wir im Anhang des ersten Bandes, Die Beständigkeit der Erinnerung, speziell ein Schlaglicht auf den Androiden Data geworfen haben, wollen wir jetzt einen Rundumblick wagen: Wann und wo tauchten im Laufe der sieben Staffeln und 176 Episoden von TNG künstliche Intelligenzen und Lebensformen auf? Durch welches Verhalten waren sie gekennzeichnet? Und was lernen wir aus ihnen?

 

Hologramme entwickeln ein Bewusstsein

 

Eine der technologischen Revolutionen gegenüber dem TOS-Zeitalter stellt das Holodeck dar, das bereits im Pilotfilm Der Mächtige/Mission Farpoint vorgestellt wird. Auf dem Holodeck wird in vollendeter Perfektion Energie in Materie umgewandelt, sodass der Besucher jede erdenkliche Umgebung authentisch simulieren kann. Doch erst in Kombination mit dem ultraintelligenten Bordcomputer der Enterprise ergibt sich die Möglichkeit, holografische Projektionen zu erschaffen, die sprechen und handeln wie Personen aus Fleisch und Blut.

 

Ganz am Anfang von TNG – beispielsweise in der Episode Der große Abschied – wird noch davon ausgegangen, dass die holografischen Kreationen und Ebenbilder, die mithilfe des Computers auf dem Holodeck generiert werden, zwar einen gewissen Intellekt besitzen, doch keinesfalls ihrer selbst bewusst sind. Spätestens in der zweiten Staffel ist es mit dieser Überzeugung vorbei. In der Folge 11001001 lässt Commander Riker eine holografische Frau namens Minuet entstehen – und ist verblüfft, wie extrem realistisch sie wirkt und dass sie genau sein ‚Typ‘ ist. Dieser Qualitätssprung geht zurück auf die jüngsten Updates durch binäre Computerexperten.

 

In der dritten Episode von Staffel zwei, Sherlock Data Holmes, wird offensichtlich, dass der Glaube, die intelligenten und glaubwürdigen Holodeckfiguren besäßen kein Bewusstsein, in die Irre führt. Tatsächlich wird sich die Nachbildung des Holmes-Bösewichts Professor James Moriarty binnen kurzer Zeit ihrer eigenen Existenz gewahr. Ausgestattet mit enormer Klugheit, Verschlagenheit und Improvisationsgabe, gelingt es Moriarty sogar, Zugriff auf die Schiffsfunktionen der Enterprise zu erlangen und ein Crewmitglied gefangen zu nehmen. Erst als Captain Picard ihn persönlich aufsucht und ihn wissen lässt, dass es technisch erst einmal keinen Weg für ein Hologramm gebe, das Holodeck zu verlassen, gibt Moriarty sich geschlagen. Allerdings kehrt er in der sechsten Staffel in der Folge Das Schiff in der Flasche zurück und bedroht erneut die Enterprise. Hier macht er Picard zum Vorwurf, sein Versprechen nicht gehalten zu haben, nach einem Weg zu suchen, damit er die künstliche Umgebung des Holodecks verlassen kann.

 

Der Spiegel-Androide

 

Mit Lore wird bereits in der ersten Staffel (Episode Das Duplikat) ein weiterer Android eingeführt, der vom menschlichen Erfinder Doktor Noonien Soong auf dem Planeten Omicron Theta erschaffen wurde. Lore ist so gut wie baugleich mit Data, verfügt jedoch über ein komplexes Emotionsprogramm, das ihn weit menschlicher wirken lässt. Wie Datas ‚Bruder‘ nach seiner Reaktivierung einräumt, war er aufgrund seiner enormen Menschenähnlichkeit vielen Kolonisten auf Omicron Theta unheimlich, so dass sie Doktor Soong baten, ihn zu deaktivieren und einen weniger ‚perfekten‘ Androiden zu kreieren. Dieser zweite Android war Data.

 

Es stellt sich heraus, dass der Lore-Android in Verbindung mit seinem Emotionsprogramm einen Charakter ausgeformt hat, der zynisch und bösartig ist und dem – anders als Data – ethisches Verhalten nichts bedeutet. So erfährt Data, dass der hoch manipulative Lore in voller Absicht eine kristalline Entität nach Omicron Theta gelockt hat, wo es sämtliche Kolonisten ermordete.

 

Lore taucht auch in späteren Episoden der Serie (Die ungleichen Brüder, Angriff der Borg, Soongs Vermächtnis) wieder auf. Dabei zeigt sich, dass er – im Gegensatz zu Data – nicht anstrebt, menschlicher zu werden, sondern organische Lebensformen als minderwertig ansieht. Die Frage, wie es sein kann, dass zwei an und für sich weitestgehend baugleiche Androiden derart unterschiedliche Persönlichkeiten ausbilden können, bleibt dabei unbeantwortet. Für den Zuschauer jedoch sollte es ein starkes Indiz dafür sein, dass auch ein Android ein einzigartiges, hochempfindungsfähiges Lebewesen mit einer unverwechselbaren Identität ist. Eben diese Erkenntnis befördert Picard in der Episode Wem gehört Data?, als er zu beweisen versucht, dass Data einen individuellen Charakter besitzt.

 

Kybernetische Schurken

 

Mit den Borg wird in Staffel zwei (Episode Zeitsprung mit Q) zwar keine rein künstliche Lebensform eingeführt, doch erscheinen ihre künstlichen Bestandteile als tragender Teil des Kollektivs. Eine disziplinierende Macht wie das Hive-Bewusstsein, das Individualität unterdrückt und die Drohnen gewaltsam zusammenschaltet bzw. lenkt, ist nur ein Beispiel hierfür.

 

Im weiteren Verlauf der Serie erscheinen uns die Borg als eine Spezies, die sich ausschließlich dadurch weiterentwickelt, dass sie andere Rassen und ihre Technologien assimiliert und in ihr Kollektiv integriert. Auf diese Weise und in der Synthese aus organischen und technischen Komponenten glauben die Borg, die sich selbst nicht mehr auf biologischem Weg fortpflanzen, Perfektion erlangen zu können.

 

Das Auftauchen der Borg konterkariert die Mythisierung technologischen Fortschritts in Star Trek. Wir bekommen eine Spezies vorgesetzt, die so vernarrt ist in das Aufsaugen neuer Daten und Techniken, dass sie dafür sogar die Individualität geopfert hat – ein Konzept, das eine regelrechte Anti-Föderation beschreibt. Auch sonst sind die Borg ganz und gar fremd; so fremd, dass sie es zur Geißel der Galaxis bringen konnten. Sie besitzen keinen Sinn für Ästhetik; es gibt nur ein zweckrationales Verhältnis zur eigenen Umwelt, und der Zweck heiligt stets die Mittel.

 

Weitere Erscheinungen

 

Künstliche Lebensformen mit hohem Intellekt und Bewusstsein begegnen uns in weiteren Episoden. In Die Macht der Naniten hat die Enterprise mit Naniten zu tun, mikroskopisch kleinen künstlichen Lebensformen, die die Kontrolle über das Schiff übernehmen, nachdem sie sich evolutionär weiterentwickelt haben und nach Freiheit streben.

 

In Datas Hypothese zeigt sich bei Reparatur- und Wartungsrobotern, Exocomps genannt, unerwartet Intelligenz. Data erkennt, dass sie einen Selbsterhaltungstrieb entwickelt haben. Er stellt die These auf, dass es sich bei den Exocomps um neue Lebensformen handelt – eine Annahme, die sich bewahrheitet, als sich eine Drohne opfert, um zwei andere zu retten.

 

Ein weiteres Beispiel für künstliche Intelligenz ist in der Folge Die Reise ins Ungewisse zu besichtigen. In Folge eines Zwischenfalls mit einer fremden Sonne kreiert Barclay ein neurologisches Interface auf dem Holodeck, das es ihm erlaubt, sich mit dem Schiffscomputer zu verbinden. Die neue Entität, die entsteht, ist in der Lage, die Enterprise fast 30.000 Lichtjahre in die Ferne zu katapultieren.

 

Die ganze Bandbreite von künstlichem Leben – und eine große ethische Frage

 

Star Trek: The Next Generation führt uns deutlich vor Augen, dass künstliches Leben im Guten wie im Schlechten im 24. Jahrhundert in der ganzen Bandbreite vertreten und längst Realität ist. In dieser Zeit haben die Menschheit und die Föderation ein Entwicklungsniveau erreicht, das unglaubliche Möglichkeiten bereithält. Die Erschaffung von künstlichem Leben ist kein schwüler Traum mehr, sondern sehr handfest.

 

Dennoch sind auch enorme Herausforderungen mit diesen neuen Möglichkeiten verbunden: entweder, weil sich dieses künstliche Leben zuweilen unberechenbar verhält und sich – frei nach Frankenstein – auch mal gegen seine Erschaffer wenden kann oder weil die Empfindungsfähigkeit und das Bewusstsein dieser Wesen zuerst gar nicht erkannt oder mutwillig unter den Tisch gekehrt wurden. Gerade aus diesem zweiten Aspekt ergeben sich bedeutsame ethische Fragen, wie Picard beispielsweise in der Episode Wem gehört Data? erkennt. Im Zusammenhang mit der Kreierung künstlicher Lebensformen, die dem Menschen zu dienen haben, stellt er die Frage:

 

„Erschaffen wir hier nicht eine neue Rasse? Wird man uns nicht danach beurteilen, wie wir diese Rasse behandeln?“

 

Daher wächst den Menschen auch eine neue Verantwortung zu. Es gilt, die Würde, die humanoidem Leben zugesprochen wird, auch auf künstliches Leben auszudehnen. Und dazu bedarf es der nötigen Wachsamkeit und Sensibilität, die Empfindungsfähigkeit von künstlichem Leben zu erkennen sowie dem Willen, sie zu schützen.