„Die Geschichte meines Lebens“ - Charakterdossier Tom Paris

 

Dieser Artikel ist erschienen in der deutschen Übersetzung des Romans Enemy of my Enemy (Der Feind meines Feindes), Cross Cult 2014.

 

Eine Zeitlang hielt sich das Vorurteil, in Star Trek sei nur Platz für die Erfolgreichen und die Besseren. Tatsächlich bot uns eine Serie wie The Next Generation fast ausschließlich Persönlichkeiten an, die es im Leben zu etwas gebracht hatten. Trotz gewisser sporadischer Andeutungen von einer rüden Vergangenheit Jean-Luc Picards während seiner Sternenflotten-Ausbildung  konnte kaum ein Zweifel bestehen: Die Protagonisten, die wir begleiten durften, waren innerlich gefestigt, im Hinblick auf ihre Leistungen herausragend, und weil die meisten von ihnen von Anfang an genau wussten, was sie wollten, war ihr Lebensweg ziemlich gerade verlaufen. Irrläufer wie Reginald Barclay waren die kuriose Ausnahme und bestätigten somit nur die Regel im Serienkonzept.

 

Mit DS9 wurde die Experimentierfreude, Charaktere mit Ecken und Kanten zu schaffen, zwar größer (man denke beispielsweise an den Witwer Benjamin Sisko oder die temperamentvolle Freiheitskämpferin Kira Nerys), dennoch bekamen wir gerade zu Beginn der Serie mit Figuren wie Julian Bashir, Jadzia Dax und Miles O‘Brien wieder die typische, erfolgsverwöhnte und ziemlich stromlinienförmige Sternenflotten-Garde vorgesetzt. Einen wirklichen Paradigmenwechsel vollzog erst der vierte Star Trek-Spross Voyager. Obwohl es auch hier weiterhin den Typus des ziemlich makellosen ‚Bessermenschen‘ gibt, betonte Voyager bei einem Teil des Casts die Unebenheiten und machte sogar erstmals eine gescheiterte Existenz mit gebrochenen Schicksalspfaden zum Bestandteil der Stammbesatzung.

 

Die Rede ist von Tom Paris, der uns in der allerersten Episode Der Fürsorger als völliger Antityp des Sternenflotten-Offiziers, wie wir ihn zu kennen glaubten, gegenübertritt. Der tief gefallene Pilot bewies uns, dass eine Gesellschaft wie die moralisch und intellektuell geläuterte Menschheit des 24. Jahrhundert mit ihren hohen Ansprüchen und Idealen nicht nur lebende Legenden à la Kirk und Picard produziert, sondern eben auch Verlierer, die an jenen Erwartungen Schiffbruch erleiden können.

 

Mit der Entscheidung, eine Figur wie Paris zu einem zentralen Protagonisten der Show zu machen, bürstete man nicht nur das makellose Bild der vermeintlich perfekten Zukunftsgesellschaft gegen den Strich. In sieben Serienjahren demonstrierte man auch, dass ungerade, zerklüftete Lebenswege mitunter genau das richtige Rezept sind, damit ein Charakter wirklich zu sich selbst findet. An Bord der Voyager trat Paris, dessen ruhmloses Schicksal bereits vorgezeichnet schien, eine eigene, ungewöhnliche Reise an, in deren Verlauf er eine neue Chance erhielt, sich emanzipierte und aus der geistigen Abhängigkeit von seinen erfolgsverwöhnten Vormündern befreite, um am Ende doch noch ein guter Offizier zu werden. Nun wollen wir seine Vergangenheit ein wenig genauer unter die Lupe nehmen.

 

Im Schatten des großen Mannes

 

Thomas Eugene Paris wird im Jahr 2346 als jüngstes Kind von Owen und Julia Paris in Portola Valley, Kalifornien, geboren (vgl. Roman Voyager: Mosaik). Er gehört einer Familie an, die wie kaum eine andere seit etlichen Generationen mit der Sternenflotte aufs Engste verbunden ist und deren Ahnen es nicht selten bis in die höchsten Ränge des Oberkommandos schafften. Sein Vater ist einer der höchstdekorierten Admiräle der Raumflotte und genießt hohes Ansehen (vgl. Voyager 1x01/02: Der Fürsorger). Als direkter Nachfahre dieser „Sternenflotten-Aristokratie“, wie Tom es später einmal ausdrücken würde, und zudem als einziger Sohn seiner Eltern wird er vom traditionsverbundenen, elitär denkenden Owen frühzeitig auserkoren, in dessen Fußstapfen zu treten. Sein Vater verhält sich ihm gegenüber streng und autoritär und spart nicht damit, Tom seine hohen Erwartungen an ihn deutlich zu machen (vgl. Voyager 1x04: Subraumspalten; 1x06: Der mysteriöse Nebel; 1x13: Bewusstseinsverlust; 1x14: Von Angesicht zu Angesicht; 2x08: Rätselhafte Visionen; 6x10: Das Pfadfinder-Projekt). Schnell entsteht zwischen Tom und Owen ein höchst ambivalentes Spannungsverhältnis.

 

Zunächst versucht er, sich von seinem Vater abzusetzen und einfach seinen eigenen Weg im Leben einzuschlagen. Er geht Situationen dezidiert aus dem Weg, in denen Owen ihn an seinen Maßstäben messen und mit seiner eigenen Entwicklung vergleichen kann, wie er es gerne tut. Der junge Tom Paris ist mitunter aufmüpfig und rebellisch; er entführt Owens Privatshuttle und versenkt es im Lake Tahoe (vgl. Voyager 4x20: Vis-à-vis). Mit der Zeit aber wird das Bedürfnis immer größer, seinen Vater stolz zu machen und dessen Anforderungen zu erfüllen. So entschließt er sich schließlich auch, Owens Wunsch zu entsprechen und sich an der Akademie der Sternenflotte einzuschreiben. Von seinem ursprünglich gehegten Traum, als Offizier der Marine auf dem Meer zu leben und zu arbeiten, nimmt er Abschied (vgl. Voyager 1x03: Die Prallaxe; 5x09: Dreißig Tage).

 

Die Sternenflotte und das andere Leben

 

In den ersten Monaten seiner Ausbildung stellt Tom unter Beweis, dass er ehrgeizig und erfolgreich ist und zeigt zudem eine besondere Begabung für die Navigation von Raumschiffen. Allerdings merkt er rasch, dass die Erwartungshaltung seines Vaters sich seinen Erfolgen anpasst und immer weiter anwächst. Es kommt der Zeitpunkt, an dem er dem Druck nicht mehr ohne weiteres gewachsen ist. Gleichzeitig ist er in dem Widerspruch gefangen, der sich in den vergangenen Jahren wie ein Fluch verselbstständigt hat: Einerseits verteufelt er die graue Eminenz, die der Admiral für ihn darstellt, und mit ihm den Schatten, in dem er nach wie vor steht, andererseits buhlt er weiterhin um dessen Gunst (vgl. Roman Voyager: Schicksalspfade – Tom Paris).

 

Einen Ausweg aus diesem Teufelskreis verspricht Odile Launay, eine seiner engsten Freunde an der Akademie und nach Susie Crabtree seine erste große Liebe (vgl. Voyager 2x19: Lebensanzeichen). Die junge Französin hat in ihm die Leidenschaft für den traditionellen Skisport geweckt und schließlich eine aufrichtige Beziehung mit ihm begonnen. Tom verehrt sie zutiefst. Nachdem Odile im vorletzten Jahr ihrer Ausbildung nach Marseilles zieht, um von dort aus weiter zu studieren, folgt ihr Tom nach und sucht sich ein paar neue Spezialisierungsgebiete.

 

In dieser Zeit entdeckt er auch seine Liebe zu Frankreich – und das Chez Sandríne, ein uriges Stammlokal im Herzen von Marseilles, das zu einem symbolischen Ort, einer besonderen Metapher in seinem Leben wird (vgl. Voyager 1x06: Der mysteriöse Nebel; 3x03: Das Hochsicherheitsgefängnis). Im Chez Sandríne macht er neue Bekanntschaften und verbringt viel Zeit mit Poolspielen. Allerdings beginnt er auch zu trinken, zu flirten und dem leichten Leben zu frönen – eine Gegenreaktion auf alle Selbstdisziplin und Performance, die er unter den Augen von Owen Paris bislang an den Tag gelegt hat. Das Chez Sandríne ist für ihn wie der Wink in ein anderes, einfacheres Leben, ein Fluchtpunkt. Doch Odile erkennt, dass ihm dieser Ort auf Dauer nicht gut tut, und zieht ihn vorerst von dort weg.

 

Seine familiäre Situation holt Tom zuletzt wieder ein. Am Ende seines Studiums und des praktischen Trainings wünscht er sich, der er sich jahrelang unter Beweis gestellt und abgemüht hat, eine Versetzung auf die Enterprise. Doch sein Vater stellt sicher, dass seine Bewerbung für Captain Picards Schiff nicht einmal berücksichtigt wird, weil er fürchtet, es könnte nach Vetternwirtschaft aussehen, wenn sein Sohn zu schnell die Karriereleiter hinaufklettert. Diese Intervention kann Tom seinem Vater nicht verzeihen. Wie nie zuvor ist er der Überzeugung, hart und unfair behandelt zu werden und ein Spielball in den Händen eines willkürlichen Riesen zu sein, der über sein Schicksal entscheidet (vgl. Roman Voyager: Schicksalspfade – Tom Paris).

 

Der Fall des Tom Paris

 

Tom tritt einer Einheit der Small Attack Vessel (SAV) bei, wo er glaubt, seine Fähigkeit als Pilot am besten weiterentwickeln zu können. Doch die Auseinandersetzung mit seinem Vater hat ihre Spuren hinterlassen – er ist unaufgeräumt und unkonzentriert. So enden die ersten Tage seines neuen Dienstes bereits in einem Desaster. Bei einem Manöver in einem Asteroidenfeld nahe Caldik Prime begeht Tom einen schwerwiegenden Pilotenfehler, wobei die drei anderen Mitglieder seiner Fluggruppe ums Leben kommen. Unter ihnen befindet sich auch Odile, die ihn in den neuen Job begleitete.

 

Tom begibt sich zwecks Anhörung zur Erde zurück. Er kann den Gedanken nicht ertragen, vor seinem Vater und seiner Familie in Ungnade zu fallen. Deshalb fälscht er die Flugberichte und macht wohlüberlegte Falschaussagen, sodass die Untersuchungskommission letztlich zu dem Ergebnis kommt, im Asteroidenfeld des Wega-Systems habe sich ein tragischer Unfall ereignet. Angesichts des legendären Rufs des Paris-Clans kommt niemand auf die Idee, ihn ernsthaft zu verdächtigen (vgl. Voyager 1x01/02: Der Fürsorger).

 

In den nächsten Monaten wird Tom der U.S.S. Exeter zugeteilt, wo er im Rang eines Junior-Lieutenants als Navigator dient (vgl. Voyager 2x05: Der Zeitstrom). Doch Frieden findet er dort nicht. Beinahe jede Nacht plagen ihn heftige Albträume. Er sieht die Leichen derjenigen, für deren Tod er verantwortlich ist, die Leiche von Odile, die er so sehr liebte. Während eines Aufenthalts auf Betazed hat er eine kurze, aber heftige Romanze mit einer Frau namens Lissine, die seine düsteren Gefühle erspürt und ihn darin bestärkt, nicht mehr vor ihnen wegzulaufen. Als die Albträume in der Folge noch schlimmer werden und Tom sogar spastische Anfälle bekommt, sieht er keinen anderen Ausweg, als seinem Gewissen nachzugeben. Er kehrt auf die Erde zurück, stellt sich einer erneuten Befragungen und gibt ein volles Geständnis ab (vgl. Roman Voyager: Schicksalspfade – Tom Paris).

 

Rückkehr nach Marseilles und Rekrutierung durch den Maquis

 

Wenige Tage später wird er unehrenhaft aus der Sternenflotte entlassen. Sein Vater lässt ihn wissen, wie sehr er von ihm enttäuscht sei, und viele seiner Verwandten verstoßen ihn regelrecht. Tom lässt sich treiben. Er besucht verschiedene exotische und abgeschiedene Orte auf der Erde, findet aber keine innere Ruhe und sieht auch keine neue Perspektive für sich. Letztlich verschlägt es ihn zurück nach Marseilles, wo er auf Tuchfühlung mit dem Leben geht, vor dem Odile sich gefürchtet hatte. Doch Odile ist nicht mehr da, sondern tot. Wegen ihm. Tom ertränkt seine Trauer und seinen Frust in Alkohol, während er die Tage und Nächte mit Pool und namenlosen Frauen verbringt (vgl. Voyager 2x05: Der Zeitstrom).

 

Dann erscheint eines Tages ein rätselhafter Mann mit einer Tätowierung auf der Stirn im Chez Sandríne und möchte sich mit ihm unterhalten. Der Fremde stellt sich als Chakotay vor, seines Zeichens ehemaliger Sternenflotten-Offizier und nun ein führendes Mitglied des Maquis. Chakotay, der für seinen Kampf gegen die Cardassianer immer auf der Suche nach fähigen Piloten ist, bietet Tom die Aussicht, wieder ein Schiff zu fliegen, indem er sich bereiterklärt, den Kampf für eine gerechte Sache zu unterstützen. Tom, bisher ziellos und ohne einen Hoffnungsschimmer, braucht nicht lange, um einzuwilligen.

 

In den ersten Monaten beim Maquis zeigt sich jedoch, dass er weder den nötigen Eifer noch die richtige Einstellung besitzt, dieses neue Leben wirklich anzunehmen. Während er sich von der Möglichkeit, wieder Pilot zu sein, blenden ließ, muss er rasch erkennen, dass er – anders als Chakotay und seine Besatzung an Bord der Val Jean – nicht mit Überzeugung bei der Sache ist. Sein innerer Niedergang, der in Marseilles besonders weit fortgeschritten ist, geht weiter. Er behandelt die Frauen an Bord wie Sexualobjekte und zettelt Auseinandersetzungen mit den männlichen Besatzungsmitgliedern an (vgl. Roman Voyager: Schicksalspfade – Tom Paris). Insbesondere mit der Chefingenieurin, B’Elanna Torres, die er für arrogant und eingebildet hält, gibt es Reibereien (vgl. Voyager 4x03: Tag der Ehre).

 

Aus diesem Grund verschlechtert sich auch das Verhältnis zu Chakotay rapide, der die Eskapaden seines Steuermanns immer weniger toleriert. Obwohl Tom die eine oder andere brenzlige Konfliktsituation mit den Cardassianern dank seiner geschickten Ausweichmanöver meisterte, ist Chakotay schnell von ihm enttäuscht und hält ihn für jemanden, der nicht mit dem Herzen dabei ist, sondern für einen Mitläufer und Opportunisten (vgl. Roman Voyager: Schicksalspfade – Chakotay).

 

Inhaftiert

 

Im Frühjahr 2370 kommt es zu größeren Kampfhandlungen mit den Cardassianern, und der Maquis demonstriert, dass er sich nicht von der Föderation aufhalten lässt (vgl. DS9 2x20/21: Der Maquis). Als sich die Val Jean in den Badlands verstecken muss, wird Tom mit einem Shuttle entsandt, um Hilfe zu holen. Allerdings wird er von der Sternenflotte gefasst und verbringt die nächsten sieben Monate in einem Gefangenenlager in Auckland, Neuseeland (vgl. Voyager 1x01/02: Der Fürsorger).

 

Häufig gehen seine Gedanken an seinen Vater, der den Kontakt zu ihm abgebrochen hat. Nun, was sagst Du dazu, Vater?, denkt er zynisch. Der Fall dauert an. Dein einziger Sohn wurde nicht nur unehrenhaft aus der Sternenflotte entlassen, sondern gilt jetzt auch noch als Verbrecher. Vielleicht möchtest Du Deinen Familienbildern ein Foto von ihm hinzufügen, das ihn in Sträflingskleidung zeigt (vgl. Roman Voyager: Schicksalspfade – Tom Paris).

 

Zu diesem Zeitpunkt glaubt Tom Paris, dass er wirklich ganz unten angekommen ist. Er hat es nicht eilig, das Internierungslager zu verlassen, sondern weiß die Ordnung zu schätzen, nach der er sich hier zu richten hat. Als Anfang 2371 eines Tages eine Frau namens Kathryn Janeway erscheint und ihn um Unterstützung bei der Suche nach einem verloren gegangenen Maquis-Schiff bittet, willigt er ein, und sei es nur, um Chakotay, den er zu hassen gelernt hat, eine auszuwischen. Ein dreiwöchiger Flug an Bord der Voyager, eine Tätigkeit als ‚Beobachter‘ in den stürmischen Badlands – das alles entlockt ihm keine allzu große Begeisterung. „Die Geschichte meines Lebens!“, sagt er mit bitterem Humor.

 

Noch ahnt er nicht, dass die wechselvolle Odyssee seines Lebens noch längst nicht an ihr Ende gelangt ist. Dass er Chakotay und B’Elanna Torres wiedersehen wird, als Teil einer gemischten Besatzung aus Sternenflotte und Maquis, der auch er angehören wird. Ebenso wenig weiß er, dass er eines Tages wieder am Navigationspult eines Sternenflotten-Schiffes Platz nehmen wird. Tom ist sich nicht darüber im Klaren, dass ihm eine siebenjährige Abenteuerfahrt quer durch den Delta-Quadranten eine neue Chance eröffnen wird, aus dem langen Schatten seines Vaters herauszutreten und doch die stolze Tradition seiner Familie fortzusetzen. Auf seine eigene Weise.