Das Ende ist nicht das Ende - Zum Abschluss des Star Trek-Litverse in Coda

 

Im Finale von Coda, Oblivion’s Gate, löst sich die Zeitlinie des Litverse auf; dieser Strang der Geschichte des Star Trek-Universums, wie er rund zwei Jahrzehnte von zwei Dutzend Autor*innen verfolgt worden ist (siehe hierzu auch meine Bilanz zum Star Trek-Relaunch), gelangt unwiderruflich an sein Ende. Im Kampf gegen die Raum und Zeit buchstäblich auffressenden Devidianer gelingt es, das Multiversum zu retten, doch dafür muss die Litverse-Zeitlinie (‚First Splinter‘ genannt) geopfert werden.

 

Ein besonderer Abschluss

 

Man kann von der Coda-Trilogie halten, was man möchte. Ich persönlich war nur begrenzt angetan von diesem zerstörerischen und zuweilen grausamen Werk, in dem alles und jeder nacheinander eingerissen wurde, so wie ein Kind mit Genuss eine Sandburg zertrampelt. Sicherlich wäre es auch möglich gewesen, eine Abschlussgeschichte zu erzählen, die mehr zum optimistisch-hoffnungsvollen Duktus von Star Trek gepasst hätte, der seit geraumer Zeit unter die Räder gekommen ist.

 

Dennoch präsentiert David Mack zum Schluss seines Romans einen versöhnlichen, da alles überwölbenden Epilog, der wunderbar für sich betrachtet werden kann, ganz unabhängig von der Handlung, wie sie in Coda ablief. In dem Moment, wo es in einem letzten, verzweifelten Akt gelingt, den Devidianern das Handwerk zu legen, kommt die Zeitlinie tatsächlich zu einem Ende. Wir verfolgen dies nur noch anhand von Jean-Luc Picard, der nicht nur seine Familie, seine Crew, sein Schiff, seine Karriere, sondern im wahrsten Sinne des Wortes seine persönliche Geschichte - seine kostbarsten Erinnerungen - opfert, um das Universum, das Raum-Zeit-Gefüge in all seiner Komplexität vor dem Untergang zu bewahren.

 

In jenem Augenblick, in dem mit dem Sieg über die Devidianer die Zeitlinie ultimativ endet, verfolgen wir Picard in einem eigentümlich-metaphyisischen Prozess, im Zuge dessen sich sein Bewusstsein aufzulösen und doch seltsam auf andere Zeitlinien zu verteilen, ja ein Teil von ihnen zu werden scheint. Er weiß, dass dieser Schritt unumgänglich ist, und weil er bereit war, den denkbar größten Preis für die Rettung des Multiversums zu zahlen, fügt er sich in sein Schicksal.

 

Eine letzte Reise...

 

Zu Beginn des Epilogs steht Picard wieder Anij gegenüber. Er fragt die über drei Jahrhunderte alte Ba'ku nach dem Geheimnis, das sie in Star Trek: Der Aufstand andeutete, das jedoch im Film, wie wir ihn kennen, niemals gelüftet wurde. Das Geheimnis von der Fähigkeit, in einem einzigen (perfekten) Augenblick zu existieren, der ein Universum für sich sein kann. Wir wissen nicht, ob Picard sie sich nur vorstellt, ob es sich um eine Erinnerung an Anij handelt (theoretisch wäre es möglich, dass sie Picard in ihr Geheimnis eingeweiht hat oder dass die Geschichte im Litverse, deren spezifische 'Abweichung' ja ab 2373 mit der Borg-Invasion begann) oder ob vielleicht sogar im Zuge der Auflösung der Zeitlinie irgendeine Art von tatsächlichem (telepathischem?) Kontakt zwischen Picards und Anijs Bewusstsein stattfindet. Jedenfalls weiht sie ihn bei dieser Wiederbegegnung tatsächlich ein, gibt ihm ihre Weisheit weiter.

 

Anij nimmt vorweg, was Picard im Zuge des letzten Aufblitzens seiner Existenz erleben wird, ehe er durch das „Tor des Vergessens“ schreiten wird: dass alle Momente, wie sie waren, wie sie hätten sein können, wie sie sein werden und sein könnten, ihre Berechtigung haben. Dass alle Realitäten, die in schier endloser Zahl im Multiversum existieren, gleichermaßen real sind und jede in sich ihre eigene Authentizität hat (der unvergessliche Spock würde sagen: „Unendliche Mannigfaltigkeit in unendlicher Kombination“). Picard nimmt diese Lektion in Dankbarkeit und Demut an…und stürzt durch die Zeit.

 

Wovon wir nun Zeuge werden, ist eine schnelle Abfolge von Momenten in ganz unterschiedlichen Phasen von Picards Leben. Kindheit, Jugend, Erwachsenenleben und hohes Alter wechseln sich ab, und diese Leben passen nicht wirklich zueinander; sie sind unterschiedlich verlaufen. In nicht wenigen von ihnen, mögen sie noch so stark abweichen, empfindet er inniges Glück, sei es als archäologischer Einsiedler, als er Beverly Crusher zum ersten Mal gegenüber tritt, wenn er etwas unbeholfen Rikers und Trois Kind auf dem Arm hält...oder als er selbst zum ersten Mal Vater wird.

 

Es gibt jedoch auch tragische Realitäten: Ein auf ewig von seinem Vater und Bruder gedemütigter Mann, der sich niemals von diesen langen familiären Schatten wird befreien können; der Junior-Lieutenant Jean-Luc Picard aus Willkommen im Leben nach dem Tode, der es nie schaffen wird, über sich hinaus zu wachsen (jener Mann, der noch sein echtes Herz hat und nie die Dummheit beging, ein paar Nausicaaner zu provozieren); der alte, am Irumodischen Syndrom erkrankte Mann, der verwirrt auf einer namenlosen Krankenstation erwacht und nach Ehefrau und Kindern fragt, die es nie gegeben hat.

 

Das alles und noch viel mehr sieht Picard. Auch wenn Q in Coda nicht mehr in Erscheinung tritt – hier umarmt Picard letzten Endes jenen großen Rat, den der Omnipotente ihm am Ende von Gestern, Heute, Morgen gab: „Verlegen Sie sich auf das Erkunden unbekannter Möglichkeiten der Existenz.“

 

...und eine entscheidende Erkenntnis

 

Genau das tut Picard, und er erkundet nicht nur – er macht diese unbekannten Möglichkeiten der Existenz zu einem Teil von sich selbst. Picard erkennt in der schillernden Fülle der Realitäten, dass nichts, was er aufgab, wirklich verloren ist; dass es vielmehr einen noch größeren Reichtum gibt. Ihm gelingt es, sich in diesen prägenden Momenten zu verankern, und auch wenn sein persönliches Leben endet, so wird doch ein Teil von ihm in gewisser Weise unsterblich. Das bietet die erlösende Erkenntnis, dass es in Ordnung ist, dass sein Leben in seiner Zeitlinie so verlaufen ist, wie es verlief, denn es gibt ja noch so viele andere Möglichkeiten. Möglichkeiten, die sich niemals auslöschen lassen. Das große, endlose All, das so voller unermesslicher Wunder steckt, spendet Jean-Luc Picard Trost und Hoffnung.

 

Der Schluss seiner Reise durch die Momente führt zu einem alten, vor sich hindämmernden Mann, der inmitten seines urigen Weinguts und umgeben von einer wunderschönen Landschaft sitzt (es handelt sich um sein anderes Ich aus Star Trek: Picard). Picards Bewusstsein hält ein letztes Mal inne, verankert sich auch in diesem Augenblick, sinkt herab…und vergeht, indem Mack die folgenden Worte geschehen lässt: "Then comes oblivion's inevitable embrace. The rest is silence."

 

Coda endet zwar mit der Auflösung Jean-Luc Picards, aber es endet auch mit dem neuen Anfang in Star Trek: Picard (genauer gesagt Una McCormacks ersten Zeilen in The Last Best Hope), in einer anderen Zeitlinie, einer anderen Realität, in der die Dinge anders gekommen sind. Genauso können wir uns jede andere Art von Realität, von Geschichte vorstellen. Star Trek bietet Platz für jede Form von kleiner wie großer Alternative, von denen das Litverse oder Star Trek: Picard eben nur zwei Spielarten sind. Das ist die richtige Message, auch und gerade an die Fans, von denen jeder und jede ein 'eigenes' Star Trek hat.

 

Was ist real, was ist wirklich?

 

Doch was ist eigentlich Realität? Findet sie vielleicht im Kopf von jemandem statt? Sind wir womöglich das Produkt der Fantasie, der Schaffenskraft eines anderen Wesens? Sehen wir nur die Schatten auf den Wänden, die wir für Wahrheit und Wirklichkeit halten, um mit Platons Höhlengleichnis zu sprechen?

 

In einer kurzen Nachklappszene werden wir Zeuge, wie der Autor Benny Russell (bekannt aus der DS9-Episode Jenseits der Sterne) an seiner Schreibmaschine sitzt und eine neue Geschichte anfängt. Russell - ein schwarzer Autor in den USA der 1950er und 1960er Jahre - hat selbst ein schweres, mit Enttäuschungen angefülltes Leben gehabt, und die Erschaffung der fantastischen Welt rund um Benjamin Sisko und seine Raumstation voller friedlich koexistierender Völker hat ihm ein Fenster in ein besseres Morgen geöffnet, an dem er sich wärmen kann.

 

Diese knapp gehaltene Szene auf den letzten Seiten des dritten Coda-Romans, in der Russell wie der Erschaffer eines noch größeren Universums wirkt (nämlich ST als Ganzes), steht selbstreferenziell für Mack und seine vielen Kolleg*innen, die mit ihrer kreativen Kraft Star Trek über zwei Dekaden in eine eigene Richtung entwickelt haben, die absolut für sich stehen kann, die ihre ganz eigene Berechtigung hat. Auch diese Szene endet hoffnungsvoll und ist eine Verneigung vor all Jenen, die Star Trek als Phänomen überhaupt möglich gemacht haben.

 

Schöner und berührender hätte man den Abschluss des Litverse nicht gestalten können. Sie haben Großes vollbracht, Mister Mack!