Forschen war gestern

 

Nach dem Ende des letzten TNG-Films Nemesis (2002) waren die Sternenflotten-Abenteuer im 24. Jahrhundert erst einmal auserzählt. Im Fernsehen versuchte sich das Prequel Enterprise bis Mitte 2005 an Geschichten aus einer Prä-Föderations-Ära, ehe für Star Trek als Ganzes die Lichter ausgingen. Zwar gab es ab 2009 eine Neubelebung im Kino, doch diese betraf ausschließlich ein TOS-Remake, und das auch noch – dank eines windigen Taschenspielertricks – in einem alternativen Universum. In den frühen 2000er Jahren war der Weg also frei, den ST-Inkarnationen des 24. Jahrhunderts eine neue Bühne zu bereiten – und sie dort unter anderen Vorzeichen fortzuerzählen. Diese Bühne war die der Romane.

 

Den Anfang machte Deep Space Nine mit seiner achten Staffel, weil die komplexen Figuren und die dichte und an Handlungsbögen reiche Geschichte wunderbare Anknüpfungspunkte bot, um den Epos um die ehemalige cardassianische Raumstation weiterzuspinnen. Der TNG-Relaunch stand ein wenig später in den Startlöchern. Im Jahr 2005 war es soweit: Herausgeber Pocket Books wandte sich den weiteren Abenteuern der Enterprise-E nach den einschneidenden Ereignissen in Nemesis zu. Die sogenannte Second Decade nahm Fahrt auf. Wie verlief der Weg dorthin und welche Überlegungen trugen den TNG-Relaunch?

 

 

Neuer Zeitgeist übernimmt die Ruderkontrolle

 

Das verbindende Element für sieben Staffeln TNG war der Prozess der Q gegen die Menschheit gewesen, deren idealtypischer Vertreter Jean-Luc Picard war. Picard erbrachte, wenn man so will, immer wieder den Beweis dafür, dass die Menschen eine andere, bessere Gesellschaft geworden waren. Es war letztlich auch kein Geringerer als Q persönlich, der am Ende der TV-Reise von Picard und Co. die Prämisse in Worte fasste, die The Next Generation im Kern ausgemacht hatte. In Gestern, Heute, Morgen riet er dem Captain: „Verlegen Sie sich auf das Erkunden unbekannter Möglichkeiten der Existenz.“ Damit hatte er dem zu diesem Zeitpunkt bereits vor Jahren verstorbenen Erschaffer Gene Roddenberry aus dem Herzen gesprochen. Das Finale von TNG spiegelte eine Serie, die im Großen und Ganzen eine konsequente Fortführung dessen gewesen war, was mit Roddenberrys Vision in den Sechzigern seinen Ausgang genommen hatte. Eine Serie, die eine geläuterte Menschheit zeigte, die mit einem festen und humanistischen Wertekorsett, Neugier und einer Menge Ideale zu den Sternen aufbrach. Ohne Götter, ohne Vormünder, ohne die Niederungen unserer eigenen Gegenwart.

 

Ab Mitte der 1990er Jahre begann sich das ST-Franchise zu wandeln. Ein neuer Zeitgeist zog allmählich ein, der später durch den 11. September 2001 im Sinne eines kulturellen Ereignisses noch einmal massiv katalysiert wurde. Das, wofür TNG gestanden hatte, geriet – jedenfalls in den Etagen der Produzenten – langsam, aber sicher aus der Mode. Der Stern friedlicher Konfliktlösung und perfekter, geradliniger Helden, wie Captain Jean-Luc Picard mustergültig einer war, sank – die Zuschauer sollten mehr Konflikte, Action und Charaktere mit Ecken, Kanten, Makeln und dunklen Seiten zu sehen bekommen. Die kommenden Star Trek-Erzeugnisse hielten der Roddenberry-Vorlage in vielerlei Hinsicht die Treue, doch waren sie solchen stilistischen Wandlungsprozessen klar ausgesetzt. In DS9 tobte jahrelang der Dominion-Krieg, im Laufe von Voyager wurde Captain Janeway zusehends waghalsiger und risikoorientierter, und die dritte Staffel von Enterprise machte aus Captain Archer eine Art von intergalaktischem Terrorbekämpfer.

 

 

Wohin mit TNG?

 

Die Konsequenzen dieser allgemeinen Strömungsänderung, auf die Star Trek reagierte, zeigten sich am deutlichsten im Kino. Obwohl Der Aufstand im Sinne eines Intermezzos noch einmal mit dem früheren Prinzipien- und Idealistentum einer rechtschaffenen Sternenflotte jonglierte, wurden die Enterprise-Mannen des nächsten Jahrhunderts auf eine neue Fährte geführt. Streifen Nummer acht, Der Erste Kontakt, experimentierte mit dem Charakter Picards und fügte ihm das Element der Verbitterung und Rachsucht hinzu, als die Borg-Königin wieder in seiner Nähe weilt und einen zweiten Invasionsversuch unternimmt. Dies war ein Erdrutsch für die Figur Picards und steht durchaus symbolisch für das Bestreben, TNG auf mehr Dramatik und Kampf zu trimmen. Nemesis setzte diese Linie fort.

 

Für ein TNG-Sequel in Romanform stellten sich folglich ein paar entscheidende Fragen: Wie sollten jetzt die Abenteuer von Picard und Co. weiter gehen? Unter welchem neuen Leitthema sollten sie abgehandelt werden?  Die Ausgangslage war nicht optimal: Einerseits eine an und für sich rund abgeschlossene und halbwegs auserzählte Serie, andererseits vier Filme, die in Story, Stil und Charakterarbeit ziemlich anders gewesen waren als ihre Basis. Zudem waren die TNG-Blockbuster seit Treffen der Generationen punktuell durch die späteren Jahre gehuscht. Einige neue Charaktere waren gekommen, andere waren zurückgekehrt, manche hatten von Treffen der Generationen zu Der Erste Kontakt und von Der Aufstand zu Nemesis recht starke Veränderungen durchlaufen, ohne dass die Zuschauer wussten, was zwischendurch geschehen war.

 

Wie kam Geordi eigentlich an seine neuen Augen? Warum hat Data plötzlich keine Emotionen mehr? Wie fand Worf nach seiner Zeit auf DS9 zurück auf die Enterprise? Warum wollen Riker und Troi plötzlich heiraten? Was sucht Wesley auf ihrer Hochzeit? Warum wollen die ‚Imzadis‘ samt Doktor Crusher schließlich von Bord gehen und die Karriereleiter hochklettern? Warum hat Picard plötzlich Humor, und warum ist er nicht schon längst Admiral?

 

 

Erste Schritte

 

Fragen über Fragen, die offen geblieben waren und das lesebereite Publikum durchaus interessierten. Dies aufgreifend, entschied sich Pocket Books nicht sogleich für eine Post-Nemesis-Fortsetzung, sondern wollte zunächst einen Fanservice bieten, der bei den Kinofilmen ansetzte. Im Rahmen mehrerer Doppelromane der A Time to…-Serie (2004) konzentrierte man sich darauf, geschichtliche Lücken zwischen den Kinofilmen Der Aufstand und Nemesis zu füllen. Hier erfuhren wir sowohl Persönliches als auch Politisches, etwa mit Blick auf die äußere wie innere Situation der Föderation nach dem verheerenden Dominion-Krieg und die Rolle der Enterprise inmitten dieser schwierigen Großwetterlage.

 

Hinsichtlich einer Weitererzählung im Anschluss an den zehnten Kinofilm war die zündende Idee aber noch nicht ganz gefunden. Die buchbasierten Relaunches von DS9 und Voyager waren lanciert und entwickelten sich gut. Im Frühjahr 2005 brach dann auch Captain Rikers neuer Kahn, die Titan, zu seinem literarischen Jungfernflug auf. Für eine TNG-Fortführung stellte Star Trek: Titan ein ausgemachtes Problem dar, denn diese Reihe reklamierte für sich, den Forschergeist der Sternenflotte – nach den harten Jahren des Dominion- und Borg-Kriegs – wieder hochleben zu lassen. Eigentlich das klassische TNG-Motto.

 

Was nun mit dem im Trockendock Staub ansetzenden Flaggschiff machen? Anders als bei DS9 und auch Voyager, deren TV-Finale zahlreiche Fragen offen ließen und damit Anknüpfungspunkte schufen, hingen bei TNG die Früchte zum Ernten nicht so niedrig. Und das vor allem aus einem Grund: Das Familiengefühl war zuletzt ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen worden. Während am Ende anderer Shows die Crew zusammenblieb oder zumindest ein funktionierender Rest, waren im Gefolge von Nemesis nur noch ein paar zerstreute Hauptcharaktere auf der Enterprise verblieben.

 

 

Ölzweige

 

Irgendwann schafften Editor Marco Palmieri und seine Abteilung doch den Absprung. Ende 2005 veröffentlichte Pocket Books den TNG-Titel Death in Winter (Tod im Winter), der unmittelbar an Nemesis anknüpft. Auch hier haben wir es mit einer weiteren Annäherung auf der Suche nach einem geeigneten Leitthema für das neue TNG zu tun. Tod im Winter konzentriert sich auf das Verhältnis zwischen Picard und Beverly Crusher – ein erster Ölzweig, denn diese Beziehung gehört zu den kaum bearbeiteten Baustellen der Serie. Die beiden Figuren sollten im TNG-Relaunch gemeinsam richtig durchstarten.

 

Die damalige Co-Editorin Margaret Clark, die federführend am TNG-Sequel mitwirkte, merkt dazu in einem Interview, das ich mit ihr führte, an: „In TNG ging es um das Konsultieren vertrauter Personen. Es ging um die Familie und das Geschehen auf dem Schiff. Und deswegen sagte ich den beteiligten Autoren, dass neben Picard drei Kernfiguren auf jeden Fall Teil eines TNG-Relaunches sein müssen: Geordi, Worf und Beverly.“ Weshalb gerade diese drei Personen? „Ganz einfach.“, meint Clark. „Sie sind Markenzeichen, Sympathieträger und Picards Bezugspersonen. Data ist ja nicht mehr da.“ Daher setzte sie sich durch, Beverly wieder auf die Enterprise zurückzuholen. „Ich hielt es für blöd, dass sich die Produzenten tatsächlich davor drückten, zu zeigen, wie man eine romantische Beziehung an Bord eines Raumschiffes entfacht und am Leben erhält.“ Beverlys Weggang ist für Picard der Anlass, sich bewusst zu werden, was ihm wirklich wichtig ist im Leben.

 

 

Festlegungen

 

Indes: Es sollte noch Jahre dauern, bis der TNG-Relaunch – inoffiziell Second Decade getauft – richtig Fahrt aufnahm. Spätestens mit dem vierten Buch, Before Dishonor (Heldentod), das 2008 erschien, stand endgültig fest, dass Pocket Books die alte Idee einer Verschmelzung von neuem und altem TNG aufgegeben hatte. Dennoch hielt man die Entscheidung für richtig. So rückten die kybernetischen Borg – Picards wahre Nemesis – auf einen Schlag ins Zentrum der TNG-Fortsetzung, die ihrerseits den Neuanfang einer Saga darstellt. Dass die Borg das dominierende Thema des Relaunch wurden, verteidigt Clark ehern und sieht in ihrem Wiedererscheinen mitnichten etwas Altbackenes. „Mir schienen die Borg in Voyager zahm gemacht worden zu sein. Ich wollte sie wieder so haben, wie wir sie zuerst sahen: furchteinflößend. Man muss den Tisch umstoßen und alle Regeln ändern, um die Borg wieder interessant zu machen.“

 

Das ließ sich wie eine kleine Revolution an. Dazu passte das Vorhaben, die Second Decade für Crossover mit anderen Serien und Gastrollen stärker zu öffnen. „Es ist toll, neue Leute an Bord zu nehmen – die finden nämlich nicht alles super, was der Captain sagt. Man braucht neue Offiziere, die noch nicht unter Picard gedient haben und die Dynamik verändern.“ Der Anspruch war, TNG stärker mit dem reichhaltig gewachsenen ST-Kosmos zu verbinden. Wer bereit ist, sich auf eine Wiedergeburt von Next Generation einzulassen, wird belohnt. Jean-Luc Picard und seine Mannschaft stehen in der literarischen Fortsetzung vor gewaltigen Herausforderungen. Mit der Destiny-Trilogie aus der Feder von David Mack – einer wahren Borg-Apokalypse – steuert die Reihe auf einen absoluten Höhepunkt zu.

 

Ach ja: Viel später würde im Streaming-Zeitalter eine neue ST-Serie namens Star Trek: Picard (2020) auftauchen und die literarische TNG-Fortführung durch eigene Forterzählungen in Frage stellen. Aber das ist ein Risiko, mit dem lizenzgeschützte Tie-in-Produkte immer leben müssen. Außerdem ist Star Trek bekanntlich reich an Möglichkeiten, sodass sich die Fans aussuchen können, welchem Zeitverlauf nach Nemesis sie folgen möchten.